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Manchmal entwirft die Bibel eine verführerische Vision von der Zukunft. Es werde eine Zeit ohne Tränen und ohne Feindschaft kommen, träumen die Verfasser solcher Texte, eine Zeit ohne Hungersnot und Plagen, ohne Sklaverei und politische Tyrannei – und natürlich auch eine Zeit ohne Armut und ohne Behinderungen. Nur eine Welt, in der all diese Menschheitsnöte ein Ende finden, verdient die Bezeichnung „Gottes Reich“ oder „Gottes Herrschaft“. Gott wird einen neuen Anlauf nehmen. Er wird die schadhaft gewordene Schöpfung neu entwerfen, oder er wird ihren Fehlern die Folgeschäden nehmen.
Mir passt es nicht, dass ich als Blinde in diesen Verheißungen der Bibel zu den Symptomen einer traumatisierten Schöpfung degradiert werde. Diese Einordnung stimmt nicht mit meinem Selbstbild überein und nicht mit meiner Wahrnehmung anderer Menschen mit Behinderungen.
Sonderlich erstaunlich finde ich den Wunsch nach einer „Prekariats-“freien Zeit allerdings nicht. Gerade in der Antike wimmelte es nur so von sozialer Ungerechtigkeit, ansteckenden Krankheiten und körperlichen Schäden, gegen die noch kein Kraut gewachsen war. Das Phänomen Behinderung mit seinen meist tödlichen Folgen gehörte zum biblischen Alltag, seine Beseitigung hatte etwas von Traum und Utopie. Um der Bibel die Stange zu halten: Bevor sie vom Verschwinden der Prekariate fantasiert, macht sie sie unübersehbar.
In einer Zeit ohne Rollstühle, ohne Brillen, ohne Antibiotika und Psychopharmaka war eine Vision von einer messianischen Wende, in der die Blinden sehen, die Gelähmten gehen, die Gehörlosen hören oder die „Besessenen“ normal sein würden, durchaus verständlich. Unser heutiger Zweifel an der Machbarkeit solcher Wunder wird durch Fortschritte in Medizin, Naturwissenschaft und Weltbild gestützt, die in biblischen Zeiten noch nicht bekannt waren. Erst unsere heutigen Erfahrungen lassen uns ungläubig den Kopf schütteln, wenn wir lesen, ein gelähmter Mann habe auf Jesu Zuruf hin sein Bett aufgenommen und sei aus der Synagoge marschiert. „Wie kann das sein?“ fragen wir – mit gutem Recht. Damalige Leser haben zwar gestaunt und sich gewundert, aber für sie war die Erfahrung, dass für Gott eben nichts unmöglich sei, wichtiger als medizinische Lehrsätze, von denen sie keine Ahnung hatten.
Gerade als Theologin habe ich immer meine Probleme mit den Wunderheilungen gehabt, die die Bibel erzählt. Ich kann sie in ihren historischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhang stellen und relativieren. Auf diese Weise verstehe ich, was die Geschichten den damaligen Zuhörern und Leserinnen sagen wollten und begreiflich machen konnten. Aber ich frage mich auch, was genau an ihnen eigentlich für heutige Menschen, speziell für behinderte Menschen, „glaub“-würdig und tröstlich ist. Die Szenen spielten sich in einer besonderen Zeit ab, aber diese Zeit der Wunder ist lange vorbei. Was habe ich als Blinde im 21. Jahrhundert davon, dass Jesus vor knapp 2000 Jahren Blinden zum Augenlicht verholfen hat? Soll ich, der inzwischen jede nervliche Verbindung zwischen Gehirn und Auge abhanden gekommen ist, an einer Hoffnung auf Licht festhalten – oder ist es nicht realistischer, sich in meiner Lage auf die unsichtbaren Seiten der Welt – und Gottes – zu konzentrieren?
Was für Jesus und seine Zeitgenossinnen grausame Wirklichkeit war, brauche ich heute als Mensch mit Behinderung gottlob nicht mehr hinzunehmen: die allgemeine Einschätzung behinderten Lebens als Bürde für sich selbst und Andere, als wertloses, fehlerhaftes, unnützes Leben, das besser vermieden worden wäre, und das Jesus folglich mit Wunderkräften auszubessern hatte, um als Gottessohn glaubwürdig zu sein. Wenn meine Theologie mich eines gelehrt hat, dann dies: Gott sagt nicht nur zu den heilen, den geheilten Menschen „Ja!“. Er akzeptiert auch die Unheilbaren und Heillosen, und manchmal werden gerade die zu den Ecksteinen in seinem Weltgebäude. Ich bin zutiefst überzeugt, dass Er mit mir, der sehunfähigen und humpelnden Susanne, etwas vorhat. Wunderheilungen gefallen mir nur, wenn ich keine Ablehnung meines Status Quo in ihnen wittere. Ich finde sie nur ermunternd, wenn ich sie als Jesu Appell begreifen kann, uns Beschädigte und unsere Defekte anders wahrzunehmen. Wir sind mehr als unsere Behinderungen. Wir haben ein sinnvolleres Leben und eine intaktere Identität, als der Rest der Welt uns zugesteht. Wo der „Glaube“ an Heilungswunder uns die Bedingungen der Unbehinderten aufdrängt, wendet er sich gegen Gottes bedingungsloses „Ja!“ auch zu seinen „missratenen“ Geschöpfen. Dass sie unvollkommen und unzulänglich sind, entspricht nicht Gottes Urteil, und bestenfalls auch nicht ihrer eigenen Wertschätzung.
Eine Welt, die mit ihren Behinderten das Phänomen des Behindertseins los würde, wäre eine Illusion. Mögen die genetischen Schäden des Embryos irgendwann schon im Mutterleib sämtlich zu reparieren sein; dass ein perfektioniertes Knochengerüst sich nicht doch eines Tages den Hals bricht, kann niemand garantieren. Vor allem wäre eine Welt ohne Behinderungen eine verarmte. Ist das eine allzu steile These? Ich möchte sie zunächst mit einigen zynischen Bemerkungen stützen. Eine Welt ohne Behinderte könnte einen beträchtlichen Teil ihrer Ausgaben für Wohnprojekte oder Hilfsmittel einsparen. Mag jemand ausrechnen, wie viele Arbeitsplätze damit überflüssig würden? Mag jemand ermessen, wie viele Chancen den gutmeinenden Helferinnen durch die Lappen gingen, sich als Lehrerinnen, Pfleger, Therapeuten, Machtmenschen und Besserwisser zu profilieren?
Schluss mit dem Zynismus. Eigentlich will ich etwas ganz Anderes sagen. Ich will darauf bestehen, dass die Schadlosen von den Beschädigten lernen könnten, sobald sie ihr Vorurteil vom Behindertsein als Horror aufgeben. Wir sind keineswegs nur die lebendig gewordenen Mahnmale menschlicher Zerbrechlichkeit, Abhängigkeit und Sterblichkeit. Das sind wir auch; Lehrerinnen für das Fach „Abschiednehmen“ und alle Disziplinen der Desillusionierungen. Was Altern heißt zum Beispiel, welche Verluste das Abnehmen von körperlichen und geistigen Reserven und das Abnehmen von Respekt mit sich bringt, könnten die ewig Jungen sich von uns abgucken. Aber darüber hinaus leben wir Leben vor, lassen die Vorzüge der Langsamkeit und die schmackhaften Konzentrate des Verzichts entdecken, zeigen, wie frei uns Loslassen macht, wie unabhängig Kontrolltypen werden, wenn sie gar nichts mehr kontrollieren können. Ich weiß, auch für Menschen mit Behinderungen ist diese Selbsteinschätzung nicht immer realistisch. Ich meine durchaus nicht, dass körperliche und psychische Einschränkungen grundsätzlich und „in Wirklichkeit“ toll seien. Sie sind grausam und schwer zu ertragen. Aber wie ein Mensch mit ihnen in Lebenspraxis und Arbeitsalltag verfährt – oder wie er sich dieser Selbstannahme verweigert – ist immer ein Zeichen von Würde.
Die Bibel hat für behinderte Menschen zum Glück nicht nur Geschichten von Wunderheilungen parat. Der einzige Autor des Neuen Testaments, von dem bekannt ist, dass er selbst behindert war, ist der Apostel Paulus. Auch er hatte, wie er selbst schreibt, Gott um Heilung angefleht, aber das Wunder war ihm verwehrt worden. Warum? Um den verzweifelten Beter Paulus verzweifelt zu lassen? Nein, sondern um den Apostel als kranken, behinderten Mann in seinem Amt, seiner Arbeit für Andere zu bestätigen. „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ Diese Antwort erhielt der schwache Paulus, als er um etwas mehr Stärke bat.
(von Susanne Krahe in Zeitschrift "Behinderte Menschen" 1/2013)